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Wieso es wichtig ist, Angehörige mit einzubeziehen

Tobias Furrer, Leiter Fachstelle Angehörigenarbeit

Tobias Furrer, Leiter Fachstelle Angehörigenarbeit

Von psychischen Krisen sind neben den Patientinnen und Patienten selbst meist auch die Angehörigen in der einen oder anderen Weise mitbetroffen. Häufig erleben Angehörige starke Belastungen, was zu psychischer Unausgeglichenheit und beeinträchtigter Gesundheit führen kann. Dies wiederum hat mehr Arztbesuche sowie erhöhte akutsomatische Hospitalisationen zur Folge. Als Angehörige sind alle Personen zu betrachten, die in einer engen und auf Vertrauen basierenden Beziehung zur erkrankten Person stehen. Sie sind nicht ausschliesslich über den Verwandtschaftsgrad definiert, sondern anhand der Beziehung zur Patientin oder zum Patienten zu sehen und werden deshalb auch als «emotionale Angehörige» bezeichnet. Somit ergibt sich eine grosse involvierte Personengruppe, wie am Beispiel von Suizid mit durchschnittlich vier bis sechs Angehörigen und Nahestehenden, die unmittelbar betroffen sind, deutlich gemacht werden kann. Gemäss einer Schätzung vom Bundesamt für Gesundheit zählt die Gruppe von betreuenden Angehörigen schweizweit rund 592'000 Personen, wovon rund 49'000 im Alter zwischen 9 und 15 Jahren sind. Eine moderne Psychiatrie kann diese Personengruppe unmöglich ausblenden.

Anlaufstelle für Angehörige

Mit der Fachstelle Angehörigenarbeit sollen Zugänge für Angehörige ins System der Psychiatrie erweitert und optimiert werden. Ein Einbezug von wichtigen und hilfreichen Bezugspersonen eröffnet entwicklungsfördernde Formen der Zusammenarbeit für alle Beteiligten. Im Sinne einer Entlastung und Ergänzung der Angehörigenarbeit auf den Stationen und in den Ambulatorien fanden im vergangenen Jahr rund 600 Beratungen im Einzelsetting statt. Die individuelle und vertrauliche Beratung durch die Fachstelle Angehörigenarbeit stellt die Bedürfnisse und Anliegen der Angehörigen in den Mittelpunkt und wird unabhängig von der Behandlung der Patientinnen und Patienten durchgeführt. Diese Unabhängigkeit ist besonders relevant, da die Arbeit mit Angehörigen oft durch die Schweigepflicht und datenschutzrechtliche Bestimmungen, denen das Behandlungsteam unterliegt, erschwert wird. Im Gegensatz dazu sind die Mitarbeitenden der Fachstelle Angehörigenarbeit nicht Teil des Behandlungsteams der Patientinnen und Patienten und verfügen daher nicht über patientenbezogene Informationen, was ihnen ermöglicht, Angehörige freier und ohne die Einschränkungen der Schweigepflicht zu beraten. Diese Trennung erweist sich als besonders wichtig, um Angehörige effektiv zu unterstützen und gleichzeitig die Vertraulichkeit und den Datenschutz der Patientinnen und Patienten zu wahren.

Angehörige von Menschen mit psychischen Störungen sind jedoch auch vor und nach einer Hospitalisation starken Belastungen ausgesetzt. Bereits mit wenig Beratungsaufwand können Angehörige ermächtigt werden, ihre Rolle so zu gestalten, dass die eigene Gesundheit erhalten werden kann (Prävention) und sie sich hilfreich im Genesungsprozess positionieren können. Die Ergebnisse einer Interviewstudie zeigen, dass folgende Belastungen effektiv reduziert werden können: Angst und Sorge aufgrund von Informationsdefiziten (84 %), Einsamkeit und soziale Isolation (72 %), Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht (71 %), Zukunftsängste (65 %) sowie die Angst vor Stigmatisierung (31 %). Bereits das Aussprechen der Belastungen und das Gehört-Werden empfinden viele Angehörige als Schritt in die richtige Richtung.

Leider ist zu beobachten, dass die Stigmatisierung und die Selbststigmatisierung, die auch Angehörige betrifft, den Zugang zu den angebotenen Beratungen erschwert. So geht psychische Krankheit oft noch mit Gefühlen wie Scham und Schuld einher. Das Angebot der Fachstelle Angehörigenarbeit wird diesbezüglich stetig weiterentwickelt und optimiert, um den Zugang noch niederschwelliger zu gestalten und sozial isolierte Angehörige zu erreichen. So werden beispielsweise Informationen in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt oder Beratungen sind auch über Video oder per E-Mail möglich.

Angehörige von Depressionspatientinnen und -patienten

Eine Depression belastet nicht nur die Betroffenen, sondern auch Partnerschaft, Familie und Freundschaften. Während man von aussen wenig sieht, nehmen Betroffene die Welt während einer depressiven Episode verzerrt wahr, was Angehörige verunsichern kann. Wie soll ich damit umgehen, wenn meine Frau abweisend ist? Soll ich es ansprechen oder mich zurückhalten? Soll ich meine Sorge aussprechen oder macht das alles noch schwerer? Kann ich als Angehöriger überhaupt helfen? Für solche Fragen gibt es keine einfachen und allgemein gültigen Antworten. Einige Angehörige reagieren überfürsorglich oder kontrollierend, andere werden wütend oder ängstlich und hilflos.

Mit einem spezialisierten Angebot für Angehörige können gut informierte und begleitete Angehörige jedoch den Genesungsprozess wirkungsvoll unterstützen. Sie müssen jedoch über die Diagnose, die Behandlung und ihre Rolle professionell aufgeklärt werden. So können beispielsweise aufgeklärte Angehörige die Betroffenen darin bestärken, die Anweisungen der Ärztin oder des Arztes zu befolgen, statt die Zweifel zu befördern. Angehörige können auch eine Art «stellvertretende Hoffnungsträger» sein. Überdies können Angehörige bei der Bewältigung des Alltags unterstützen. Gleichzeitig brauchen Angehörige jedoch auch Fürsprecher, welche die Selbstfürsorge stärken und gerade bei langanhaltenden Erkrankungen Optionen aufzeigen, sich abzugrenzen und sich selbst nicht zu vergessen. Denn Angehörigenarbeit ist nicht zuletzt Präventionsarbeit.

Was Angehörige in Zukunft brauchen

Durch die stetig sinkenden Aufenthaltszeiten im stationären Bereich sowie teilweise lange Wartezeiten auf Therapieplätze geraten Angehörige in äusserst belastende Lebenssituationen. Wie wir aus verschiedenen Studien wissen, ist das Risiko für Angehörige, selbst psychisch zu erkranken, stark erhöht. Um dies zu verhindern, sind wir gefordert, den Angehörigen Sorge zu tragen.

Kinder als besonders vulnerable Angehörige bedürfen der besonderen Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, die spezifischen Bedürfnisse dieser Kinder zu berücksichtigen, die häufig im Schatten der psychischen Erkrankung eines Elternteils oder eines nahen Familienmitglieds stehen. Sie benötigen altersgerechte Informationen und Unterstützung, um angemessen mit der Situation umgehen zu können und ihre eigene psychische Gesundheit zu schützen. Die Integration von Kindern in die Angehörigenarbeit ist daher ein wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Betreuung.

Jede Anstrengung, Angehörige respektvoll in die Hilfe einzubeziehen, ist begrüssenswert. Mit dem sinnvollen Einbezug von Angehörigen kann eine psychiatrische Behandlung als eine Dienstleistung am «System» verstanden werden. Nachhaltige Angehörigenarbeit ist eine multidisziplinäre Aufgabe in der Psychiatrie: So sind Therapeutinnen und Therapeuten, Pflegefachpersonen bis hin zu Sozialarbeitenden herausgefordert, Angehörige in den Therapieprozess mit einzubinden. Strukturierte Angehörigenarbeit in der Behandlung bedeutet jedoch nicht nur eine Dienstleistung am «Ganzen», sondern vermag auch die Behandlungsergebnisse nachhaltig zu verbessern. Geht man von einer Behandlung aus, die auf allen drei Ebenen (biologisch, psychologisch und sozial) ansetzen möchte, müssen die sozialen Systeme einbezogen werden, was mit Haltungsansätzen, wie sie beispielsweise im «Recovery»-Konzept gelebt werden, durchaus ermöglicht wird.

Um zu genesen, braucht es Menschen, die an die unterstützte Person glauben und dieser Person beistehen. Es liegt auf der Hand, dass emotionale Angehörige, die über längere Zeit Beistand leisten, als stabile Bezugspersonen prädestiniert sind, diese Hoffnung mitzutragen. Jedoch benötigen diese nicht-professionellen Hilfssysteme dringend Unterstützung. Die Psychiatrie der Zukunft soll offen und transparent informieren und aufklären. Fachpersonen sollen die Angehörigenarbeit in ihren Arbeitsalltag integrieren, sodass systemorientierte Gespräche, Familiengespräche, Psychoedukation für Kinder oder der Peeraustausch selbstverständlich werden. Psychoedukation und anamnestische Interviews sollen Hand in Hand gehen und Angehörige niederschwelligen Zugang zu zeitnahen, verständnisvollen Gesprächs- und Beratungsangeboten erhalten. Hierfür wird die Fachstelle für Angehörigenarbeit in den nächsten Jahren Massnahmen erarbeiten, um Fachpersonen zu unterstützen und ihnen mehr Sicherheit im Umgang mit Angehörigen zu vermitteln – sowohl im Alltags- und Basiskontakt, als auch im Familiengespräch. Denn eines ist sicher: Eine nachhaltige Psychiatrie ist ohne den Einbezug von Angehörigen nicht denkbar.

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