Eugen Bleuler prägt in seinem nahezu 30-jährigen (!) Direktorat das «Burghölzli» wesentlich. Der von ihm 1908 vorgeschlagene Begriff «Schizophrenie» setzt sich international rasch durch, wenn er auch heute zunehmend kritisch gesehen wird. Entscheidend ist die Mehrdimensionalität seines Denkens: Er ringt über Jahrzehnte um eine wissenschaftlich sinnvolle Integration von neurobiologischen, hermeneutischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen.
Eugen Bleuler ist eine markante und bis heute einflussreiche Figur der Psychiatriegeschichte. Der von ihm 1908 geprägte Terminus «Schizophrenie» setzt sich für Jahrzehnte international durch. In letzter Zeit allerdings erheben sich zunehmend kritische Stimmen, die den wissenschaftlichen Nutzen des Begriffs Schizophrenie im Lichte neuer Forschungsergebnisse bezweifeln und zugleich auf sein nach wie vor ausgesprochen hohes Stigmatisierungspotential hinweisen.
Bleulers Werk ist geprägt vom Spannungsfeld, zwei divergierende Zielsetzungen der Psychiatrie miteinander zu verbinden: Ein auf das Individuum abzielendes, ausdrücklich die subjektiven Elemente berücksichtigendes «idiographisches» Vorgehen einerseits sowie der verallgemeinernde, nach überindividuellen Gesetzmässigkeiten suchende und der Objektivität verpflichtete «nomothetische» Ansatz andererseits. Dabei geht es ihm um die Betrachtung des psychisch kranken Menschen als nicht nur krank, abweichend und gestört. Ihn interessiert die grundsätzliche Vergleichbarkeit von kranker und gesunder Psyche, was neben den wissenschaftlichen vor allem therapeutische Gründe hat.
Daraus folgt nun keineswegs, dass Bleuler die «hirnpathologische» – heute sagen wir: neurowissenschaftliche – Perspektive gering geschätzt hätte, im Gegenteil: Wie die meisten zeitgenössischen universitären Vertreter des Fachs ist er davon überzeugt, dass veränderte Hirnfunktionen für die Verursachung psychischer Erkrankungen von grosser Bedeutung sind. Dies ist für Bleuler aber kompatibel mit der zusätzlichen Anerkennung psychischer und sozialer Kausalfaktoren, eine Position, die wesentliche Aspekte des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten und heute breit akzeptierten Vulnerabilitätskonzepts vorwegnimmt.
Als einziger prominenter Universitätspsychiater seiner Zeit unterstützt Bleuler viele der Grundgedanken Sigmund Freuds (1856 - 1939) und setzt sie, wenn auch nicht routinemässig, im Burghölzli zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken auch bei schwer psychotisch erkrankten Menschen ein. Ein wichtiger Mitarbeiter Eugen Bleulers ist Carl Gustav Jung (1875 - 1961), der von 1900 bis 1909 am Burghölzli tätig ist.
Bleuler ist ein sehr eigenständiger Denker, was ihn im Laufe der Zeit zu einer deutlich kritischeren Position gegenüber der Psychoanalyse bewegt. Letztlich führt dies sogar zum Bruch mit Freud. 1910 tritt Bleuler aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aus. Die grundsätzliche Bedeutung des Freudschen Ansatzes für die Psychiatrie wird für ihn dadurch aber nicht geschmälert.
Grossen und nachhaltigen Einfluss erlangt das 1916 nach 5-jähriger Vorarbeit erscheinende «Lehrbuch der Psychiatrie»: Hier stellt Eugen Bleuler seine Sicht des Fachs systematisch, plastisch und klinisch orientiert dar. Es erlebt zahlreiche Neuauflagen. Nach seinem Tod (1939) übernimmt sein Sohn Manfred Bleuler die Bearbeitung.
Wie die meisten Universitätspsychiater seiner Zeit, bezieht sich auch Eugen Bleuler wiederholt auf die Degenerationslehre. Deren für die Psychiatrie relevanter Teil beruft sich auf zwei französische Autoren, Bénédict Augustin Morel (1809 - 1873) und Valentin Magnan (1835 - 1916). Psychische Erkrankungen, so der Kerngedanke, können als Ausdruck einer «Entartung» verstanden werden, wobei die krankhafte Entwicklungsreihe über Generationen hinweg von leichten Auffälligkeiten wie Nervosität oder geringe Belastbarkeit über depressive Verstimmungen und manifest psychotische Episoden bis hin zu ausgeprägter Demenz reiche. Wissenschaftlich handelt es sich dabei aus heutiger Sicht um eine empirisch abgesicherte spekulative Konzeption, die ab dem späten 19. Jahrhundert in der gesamten Medizin markanten Einfluss erlangt. Bald verschränkt sich die Degenerationslehre mit eugenischen und später «rassenhygienischen» Ideen. Gleichwohl darf nicht unbesehen eine direkte Linie von psychiatrischen Autoren der Jahrhundertwende zur nationalsozialistischen Psychiatrie gezogen und so deren Werk unter Generalverdacht gestellt werden. Nicht die pauschale Disqualifizierung psychiatrischer Autoren, die sich einer heute irritierenden entartungstheoretischen Sprache bedienen, bringt Klarheit in diesen komplexen Kontext, sondern nur die sorgfältige psychiatriehistorische Forschung.
In seinen späten Jahren entwickelt Eugen Bleuler in Schriften zur Allgemeinen Psychologie und zur Philosophie ein spekulatives naturphilosophisches Konzept: Dessen Grundannahme ist die Existenz eines von bewussten Vorgängen unabhängigen, nicht nur auf die einzelne Person, sondern auf die Gattung Mensch bezogenen Gedächtnisses («Mneme»). Dies steht in der Tradition biogenetisch-vitalistischer Vorstellungen des späten 19. Jahrhunderts. Bleulers Vision ist eine umfassende «Lebenswissenschaft», die physikalische, biologische, mentale und soziale Phänomene nicht kategorial trennt, sondern als parallele Ausdrucksformen eines integrativen (Lebens-)Prinzips versteht.
In der Zusammenschau kann die Mehrdimensionalität seines Denkens als bedeutendster Beitrag Eugen Bleulers zur Weiterentwicklung des Fachs Psychiatrie be-zeichnet werden. Ihm geht es um eine differenzierte, auch den Langzeitverlauf einbeziehende klinische Befunderhebung. Er ringt über die Jahrzehnte seiner psychiatrischen Tätigkeit um eine sinnvolle Integration von neurobiologischen, hermeneutischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen.