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Ein anonymer Bericht von Gottfried Keller erscheint unter dem Titel „Weihnachtsfeier im Irrenhaus“ in der Neuen Zürcher Zeitung und nimmt Bezug auf den Rücktritt des damaligen medizinischen Leiters der kantonalen Irrenanstalt Burghölzli, Eduard Hitzig.

Dieser Bericht Kellers erschien anonym in der Neuen Zürcher-Zeitung, Nr. 16, 11.1.1879. Es handelte sich um eine indirekte Stellungnahme Kellers zugunsten des wegen öffentlichen Anfeindungen zurückgetretenen medizinischen Leiters der kantonalen Irrenanstalt Burghölzli, Eduard Hitzig.

Bericht

Die Heilanstalt Burghölzli hat für ihren Christbaum einen so reichlichen Gabenzufluß erfahren, daß die Bescheerung mit froher Dankbarkeit vorbereitet werden konnte. Offen gestanden, war uns die Einladung zur Theilnahme nicht besonders verlockend erschienen; denn wir hatten keinen rechten Begriff davon, wie es aussieht, wo in ein paar hundert Kopfhäuschen der Herr nicht anwesend ist und die Gedanken wie die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Menschenliebe und Wissenschaft führen aber inzwischen das Regiment, die Kranken wissen, daß sie krank sind und daß ihr Gebrechen heutzutage so natürlich und ehrlich ist, wie jedes andere, und so würden sie namentlich in einer feierlichen Versammlung und vor Fremden um keinen Preis das Dekorum verletzen; an der Stelle der Selbstbeherrschung des Einzelnen scheint ein Gesammtbewußtsein zu wirken und die tröstliche Weltordnung so gut möglich aufrecht zu halten.

In dem Festsaale der Anstalt waren an die 150 präsentable Patienten nebst einer guten Zahl Freunde und Angehöriger, sowie von Mitgliedern der Behörden und der Verwaltung versammelt, und die ganze Versammlung hielt sich so still, ehrbar und gewärtig, wie irgend eine zum Gottesdienste berufene Gemeinde, hier die Männer, dort die Frauen. In der Mitte des hohen Saales ragte der gewaltige Christbaum bis an die Decke, umgeben von großen mit Geschenken beladenen Tischen. Das obere Ende des Saales war von einem gemischten Sängerchor besetzt, der aus dem Wärterpersonal und einzelnen Patienten gebildet ist und vom Geistlichen der Anstalt, Herrn Studer, geleitet wird. Da dieser Chor durch die Ungunst der Zeit aufgelöst worden war, hat er neu zusammentreten und eingeübt werden müssen, weßhalb an seine Leistungen nicht der strengste Maßstab gelegt werden durfte hinsichtlich der Sicherheit und Frische des Vortrages. Immerhin haben wir schon an Bezirksgesangsfesten gemischte Chöre gehört, mit welchen der unsrige wohl hätte wettsingen können. Er eröffnete denn auch mit einem ziemlich kunstreichen Weihnachtshymnus die Feier.

Unmittelbar darauf las der Geistliche das Weihnachtskapitel aus dem Evangelium des Lukas, die Geschichte der Geburt des Heilandes mit dem treuherzig historischen Eingang. Die schlicht und ungeschminkt vorgetragene Kunde von dem Kind in der Krippe, den Hirten auf dem Felde und dem Friedens- und Lobgesang der Engel klang wie mit Geisterlauten hinüber in den geheimnißvollen Tannenbaum, der bis auf den Boden so dicht geästet war, daß trotz der unzähligen Lichter auf seinen äußern Zweigen das Innerste des Baumes von einer dunkelgrünen Dämmerung erfüllt war wie ein Stücklein sterndurchwirkter Waldnacht. Lautlos hörte die Versammlung zu; selbst ein bleicher Kranker, der sich ab und zu für den lieben Gott hält, lauschte aufmerksam auf den Bericht über die große Heilsanordnung, die er selbst vor 1878 Jahren getroffen oder vielmehr in Vollzug zu setzen begonnen hat. Ja, er lauschte wehmütig und friedlich, ein milder Herr und kein jüdischer Rachegott wie jener Hünius Deus im alten Spital, jetzt glaub' ich in Rheinau, wenn er noch lebt, der einem Herrn Spitalpfleger einst eine furchtbare Ohrfeige versetzte, als der ihm auf seine unablässigen Tabakforderungen unbesonnen geantwortet hatte, ob denn der liebe Herrgot wirklich den ganzen Tag rauche? "Das ist für die Gotteslästerung!" fügte Hünius Deus mit feierlichem Ernste hinzu. Die drei christlichen Hauptfeste tragen von Alters her den Charakter einer unverwüstlichen milden Heiterkeit, welche in allen unbefangenen Gemüthern dogmatische, konfessionelle und kritische Quälerei nicht aufkommen läßt, und nur wo ein schaler Städtepöbel sie von der ersten bis zur letzten Stunde und darüber hinaus zur Befriedigung wirrer Zerstreuungssucht benutzt, fangen sie an, einen unheimlichen und langweiligen Anstrich zu bekommen. Das Weihnachtsfest aber ist durch seinen lieblichen Kinderkultus, gegründet auf den Glauben, daß durch ein schuldloses Kindlein das Heil in die Welt gekommen, so recht das allgemeine Hausfest geworden, an welchem das Vorlesen jenes Lukaskapitels wohl angebracht ist. Nachdem der fleißige Herr Pfarrer einen zweiten Chorgesang intonirt und zu Ende geleitet, hielt der gegenwärtige Vorsteher des Sanitätswesens, Herr Regierungsrath Frick, eine freundliche und von mild bescheidenem Wesen beseelte Ansprache an die ganze Heerschaar, an die Pfleglinge und die Pfleger, welche Rede mit fortdauernder Ruhe und Aufmerksamkeit vernommen wurde.

Hierauf wieder Gesang und sodann eine Leistung neuer Art, wie Alles, was der Abend brachte, aus den eigenen Mitteln der Hausbewohner bestritten. Vier jugendliche Frauengestalten aus der Zahl der Wärterinnen traten in weißen Idealgewändern als die vier Jahreszeiten auf, mit den entsprechenden Attributen geschmückt, und führten in einem gedichteten Tetralog einen Wettstreit um den Preis des Vorzuges durch, welcher schließlich dem Winter zugesprochen wurde, als Verwalter der schönen Weihnachtszeit. Selbst die betreffende Dichtung soll als ein wackeres Hausgebäck den Bemühungen des obersten Ehepaares des Hauses nicht fremd sein, welches sich, von einem schnöden Lokaldichter im Stiche gelassen, noch in letzter Stunde hinsetzte, um werkthätig einzugreifen, wohl der beste Beweis einer wirklichen und eifrigen Hingebung an die Leiden und Freuden der Schutzbefohlenen.

Eine artige Idee war hierauf das plötzliche Erscheinen des Geistes oder der Nymphe des gefällten Tannenbaumes, der seine schöne Stellung am Waldrande des Zürichberges hatte fahren lassen müssen. Wiederum als weiße Gestalt, einen goldenen Stern über der Stirne, sprach eine dienende Hausgenossin die Grüße aller Thierlein und Kreaturen des Waldes an diesem heiligen Abend aus, nebst den eigenen angemessenen Gefühlen, und zwar in einem mehrstrophigen Liede, welches in Ton und Weise gar zierlich an die Trutznachtigall des Herrn Friedrich von Spee erinnert und ebenfalls eine Art Hausgebackenes sein soll. Diese sämmtlichen jungen Personen trugen ihren Theil allerdings nicht mit der Kunst und Energie von Schauspielerinnen, sondern mit einer gewissen Schüchternheit braver Volkskinder vor; aber sie hatten ihre Sache gut auswendig gelernt, stockten nicht und redeten deutlich und vernehmlich.

Zum ersten Mal wurde die Vesammlung jetzt laut und zwar mit einem humoristischen Gelächter, als abermals der Winter erschien in Gestalt eines alten von Schnee und Eis starrenden Kerls mit urlangem Bart und groteskem Wesen, der ebenfalls einen metrischen Spruch that und als spezieller Bote die Hausbewohner von Seite ihrer Lieben in der Heimat, aus aller Herren Länder und von entlegensten Meeresküsten her begrüßte und tröstete. Mit Genugthuung erkannten jedoch die schlauen Angeredeten |hinter der Vermummung einer der ihnen wohlbekannten Anstaltsärzte.

Jetzt ging es aber unmittelbar an die eigentliche Bescheerung, und was mit langer Mühe und Sorgfalt zubereitet und aufgehäuft worden, flog nun wie in einer Postexpedition nach allen Seiten in die vorbestimmten Hände. Berge von kleinen und großen Paketen waren in kurzer Zeit abgetragen und Hunderte von mit Backwerk gefüllten Tellern wanderten in bester Ordnung davon und jeder auf den Schooß und in die Hände eines andächtigen Empfängers. Ruhe, Ordnung und Anstand blieben ungestört; nur eine einzige Erscheinung erinnerte uns seltsam daran, wo wir waren. Manche Gäste hatten sich unter die Kinder des Hauses gemischt und es summte eine behagliche Unterhaltung durch den Saal.

Da bemerkte man nun namentlich auf der Männerseite, wie Jeder, der seinen Teller Konfekt und Obst auf den Knieen hielt, ohne Unterschied augenblicklich zu essen begann; alte Militärs, Arbeitsleute, ernste Jünglinge, Reiche und Arme, gewesene Kneipgenies und gestrenge Philister, sie Alle, die in gesunden Tagen solche Kinderpfeife und sogenannte Süßigkeiten mit stolzer Verachtung von sich gewiesen hätten, vergnügten sich mit gleich eiliger Begierde an dem süßen Futter. Jeder Stolz, jede Verstellung war dahin; sie knusperten und knabberten, schleckten und schlabberten, als ob sie in die Jahre der Kindheit zurückgekehrt wären, und stieß man hier oder dort auf einen alten Bekannten, von dessen Hiersein man keine Ahnung gehabt, so nickte er bloß freundlich, ohne sich stören zu lassen, wie man sich etwa im Gedränge eines Jahrmarktes oder einer Volksversammlung begrüßt, in der Meinung, es sei ja selbstverständlich, sich da zu treffen. Ueber das vergnügliche Gesumme hin tönte noch der Choral: Nun danket alle Gott! worauf die Versammlung sich in ruhiger Ordnung auflöste und ehe man sich's versah, durch die weitläufigen Gänge des Gebäudes verschwunden war, Jeder in sein stilles Quartier, natürlich ohne sich von seinem Teller und seinen Paketen zu trennen.

Blickt man bei solchem Anlasse auf das Ganze einer wohlgeleiteten Anstalt dieser Art hin, so erstaunt man über die Unenbehrlichkeit derselben, wenn man an die unlang verflossene Zeit zurückdenkt, wo sie nicht da war und ihre Nothwendigkeit angefochten wurde. Bei der Gründung wurde hervorgehoben, daß der Kanton Zürich zu den Staaten gehöre, welche statistisch die meisten Geistesstörungen aufweisen. Naturhistorisch ist das vielleicht kein Mackel, da möglicherweise die gescheidtesten Leute am ehesten zur Abirrung disponirt sind. Wir wollen hierüber nicht grübeln. Sicher ist, daß für alle direkt und indirekt Bestroffenen baldigste Rettung oder ein möglichst erträglicher Zustand ersehnt wird und das wird nur durch berufsgetreue Uebung und Sachkenntniß herbeigeführt. Es wurde damals schon auf die niederländischen Irrenheildörfer hingewiesen, in welchen die Privaten sich mit Erfolg dieser Krankenpflege widmen. Es gibt auch das bekannte böhmische Schachspielerdorf, wo jeder Bauer ein vorzüglicher Schachspieler ist; in der Regel aber werden die Bauern nicht für das Schachspiel da sein, sondern mit dem Feldbau und dem Kampf mit Wind und Wetter, und der eigenen Noth des Lebens genug zu schaffen haben. Und wo bei jenem System, allgemein eingeführt, die wissenschaftliche Forschung eigentlich bleiben soll, scheint gar nicht bedacht zu werden. Das Verhältniß zwischen der wissenschaflichen Erfahrung und dem unbefugten Dazwischenhandeln Unkundiger hat neutlich der Fall Medina wieder recht klar gelegt. In einer auswärtigen Irrenanstalt bemerkte eine unserer Freunde einst zwei Narren, die damit beschäftigt waren, in einem Gemüsegarten Kohlsetzlinge zu pflanzen. Im tiefsten Ernste gingen sie auf gerader Linie vor; der Eine bohrte das Loch in den Gartengrund mit einem spitzen Holz, der andere setzte die junge Pflanze hinein und befestigte sie sorgfältig. Hinter ihnen aber schritt ein dritter Narr einher, ebenso ernsthaft, zog ein Pflänzlein um das andere wieder aus der Erde, besah es bedächtig und warf es bei Seite. Jene aber schauten nie zurück und als sie mit ihrer Arbeit zu Ende waren, fand sich nichts mehr davon vorhanden.

Diese wirkliche Vorkommenheit hat uns immer an eine der biblischen Parabeln erinnert, etwa die vom Säemann. Den zwei guten und fleißigen Narren würden Volk und Behörden gleichen, wenn sie sich die Frucht ihrer Arbeit und Mühe durch den bösen Willen des dritten Narren so leichten Kaufes zu Grunde richten ließen.

Die Weihnachtsbescheerung im Burghölzli hat wohl jeden Anwesenden auf's Neue überzeugt, daß Friede und gute Ordnung in der Anstalt herrschen und dieselbe noch lange in guten Händen gewesen wäre. Es ist nur zu wünschen, daß diejenigen, welche gezwungen sind, einen Ersatz für den scheidenden Direktor zu suchen, hiebei von einem freundlichen Sterne geführt werden.

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