Neuartige Therapien bei Kokainabhängigkeit
In Europa ist Kokain die am zweithäufigsten konsumierte illegale Substanz, die auch bei Notaufnahmen in Spitälern in Zusammenhang mit Drogenkonsum an zweiter Stelle steht. Gemäss Abwasseranalysen wird Kokain im europäischen Vergleich in Schweizer Städten und insbesondere in Zürich besonders viel konsumiert, zunehmend ist auch der inhalative Konsum von Kokain als sogenanntes Crack oder Freebase. Laut Daten von Sucht Schweiz hat sich die Zahl der Patientinnen und Patienten, die sich wegen Kokainproblemen in Behandlung begeben, in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Gleichzeitig gibt es weltweit weiterhin keine zugelassene medikamentöse Behandlung bei Kokainabhängigkeit und bestehende psychotherapeutische Ansätze zeigen verbesserungsfähige Wirkstärken.
Zwei aktuelle Forschungsprojekte versuchen diese Lücken zu schliessen, indem sie kombinierte pharmako- und psychotherapeutische Behandlungsansätze entwickeln.
Verbessertes Verständnis und therapeutische Veränderbarkeit von Trauma- und Suchtgedächtnis
Der von der Universität Zürich geförderte klinische Forschungsschwerpunkt «Synapse, Trauma und Sucht» unter der Leitung von Prof. Dr. phil. Birgit Kleim und Prof. Dr. rer. nat. Boris B. Quednow konzentriert sich auf die Plastizität des Gedächtnisses im Zusammenhang von Stress, Traumafolge- und Substanzkonsumstörungen insbesondere bei Kokainkonsumstörungen. Er hat zum Ziel, trauma- und konsumbedingte Erinnerungen in Tiermodellen und bei betroffenen Patientinnen und Patienten zu aktivieren und sie dann pharmakologisch zu schwächen, indem bereits zugelassene Substanzen zum Einsatz kommen, welche die synaptische Plastizität verändern können.
Lange Zeit wurde übersehen, dass Traumafolge- und Substanzkonsumstörungen möglicherweise eine gemeinsame neurobiologische Basis aufweisen. Dies, obwohl beide seit langem als gedächtnisbasierte Störungen aufgefasst werden, die oft gemeinsam auftreten, da sowohl Patientinnen und Patienten mit Traumaerfahrungen ein erhöhtes Risiko für Suchterkrankungen aufweisen wie auch Patientinnen und Patienten mit Substanzkonsumstörungen ein ebenfalls erhöhtes Risiko für eine Traumafolgestörung zeigen. Aus diesen theoretischen und klinischen Gründen wird innerhalb des Forschungsschwerpunkts untersucht, ob die Posttraumatische Belastungsstörung und die Kokainkonsumstörung phänomenologische und neurobiologische Ähnlichkeiten in Bezug auf die zugrunde liegenden Lern- und Gedächtnismechanismen aufweisen und ob sich ungewollt aufdrängende Erinnerungen (sogenannte Intrusionen) bei beiden Störungen geschwächt werden können.
Zunächst wurden dafür in einer ersten Studie die Häufigkeit, die Auslöser, die Merkmale und das Timing intrusiver Erinnerungen bei Patientinnen und Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung und mit Kokainkonsumstörung mithilfe eines Smartphone-basierten Tagebuchs erfasst und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin verglichen. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die intrusiven Erinnerungen bei beiden Störungen eine Reihe von Ähnlichkeiten aufweisen, die auf verwandte Gedächtnismechanismen hindeuten. Diese Daten können darüber hinaus genutzt werden, um die individuelle Behandlung der Patientinnen und Patienten zu verbessern, indem zum Beispiel auslösende Faktoren für solche belastenden Intrusionen besser erkannt und in die Behandlung individuell einbezogen werden können, beispielsweise durch Fokus und Training der Erkennung von auslösenden Faktoren.
In einem zweiten Schritt wird untersucht, ob das Antibiotikum Minocyclin Trauma- und Konsumerinnerungen sowohl bei von Posttraumatischer Belastungsstörung als auch bei von Kokainkonsumstörung betroffenen Patientenpopulationen schwächen kann, was die Symptombelastung dieser Patientinnen und Patienten deutlich verringern könnte. Um diese Hypothese zu testen, wird derzeit eine Placebo-kontrollierte, randomisierte, klinische Studie durchgeführt, in welcher zunächst die intrusiven Erinnerungen in beiden Patientengruppen aktiviert werden, um sie dann mit Minocyclin zu beeinflussen. Minocyclin ist ein Hemmer der Matrix-Metalloprotease-9 und damit in der Lage, die extrazelluläre Matrix, welche Nervenzellen miteinander verbindet und eine Rolle bei der Gedächtnisbildung spielt, zu verändern. Parallel zu den klinischen Humanversuchen führen wir in Zusammenarbeit mit Prof. Judith Homberg vom Donders Institut der Universität Nijmegen Tierstudien durch, in denen die Wirkung von Minocyclin auf das Gedächtnis in Trauma- und Suchtmodellen auf synaptischer Ebene untersucht werden können.
Traumafolge- und Substanzkonsumstörungen sind meist chronische, sehr belastende und oft schwer zu behandelnde Erkrankungen. Mit unserer Forschung wollen wir dazu beitragen, die Behandlung dieser Störungen zu verbessern und das Leiden der Patientinnen und Patienten zu mildern. Wenn es uns gelingt, das Trauma- und das Drogengedächtnis durch eine solche pharmakologische Intervention zu schwächen, wäre dies ein grosser Fortschritt in der Behandlung der jeweiligen Erkrankungen. Die Ergebnisse der klinischen Studie werden für Mitte 2025 erwartet.
Co-Boost-Studie: Ein pharmako-psychotherapeutischer Ansatz zur Behandlung der Kokainabhängigkeit mittels Ketamin und Neurofeedback
In der vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten und von PD. Dr. med. Marcus Herdener und Dr. phil. Etna Engeli geleiteten Co-Boost-Studie untersucht die Forschungsgruppe Addictive Disorders die klinische Wirksamkeit sowie die zugrunde liegenden neurobiologischen Wirkmechanismen einer neuartigen kombinierten pharmako- und psychotherapeutischen Behandlung von Menschen mit Kokaingebrauchsstörung. Diese klinische und multimodal bildgebende Studie wird in einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern von Psychiatrie, Psychologie, Neurowissenschaft und Biomedizin durchgeführt, die durch die nationalen und internationalen Kollaborationen zwischen der Forschungsgruppe Addictive Disorders und Prof. Fabrizio Esposito (Neapel), Prof. Frank Scharnowski (Wien), Amelie Haugg (Zürich) und Dr. Niklaus Zölch (Zürich) ermöglicht werden.
Aktuelle Behandlungsmöglichkeiten der Kokaingebrauchsstörung
Jahrzehntelang konzentrierte sich die Forschung zu Substanzkonsumstörungen und deren pharmakologischer Behandlung auf das Dopaminsystem, was jedoch bis heute zu keiner wirksamen Therapie geführt hat. Inzwischen sind weitere neurobiologische Prozesse bekannt, die bei Kokainabhängigkeit eine zentrale Rolle spielen. So ist in entsprechenden Tiermodellen der Glutamatstoffwechsel im Belohnungssystem des Gehirns, spezifisch im Nucleus Accumbens, verändert. In einer eigenen Studie konnte kürzlich mittels Magnetresonanzspektroskopie gezeigt werden, dass analog zu den Tiermodellen diese glutamatergen Veränderungen auch bei Personen mit einer Kokaingebrauchsstörung in Zusammenhang mit dem Suchtverlangen, einem Kernsymptom der Erkrankung, stehen. Angesichts dieser konsistenten translationalen Befunde scheint der Glutamatstoffwechsel ein vielversprechendes Ziel für neue, dringend notwenige pharmakologische Behandlungsansätze zu sein.
Ketamin als neuer Therapieansatz für Kokainabhängigkeit
Ein Glutamat-Rezeptor, der sogenannte NMDA-Rezeptor, stellt die Hauptbindungsstelle für Ketamin dar. Als NMDA-Antagonist ist Ketamin somit in der Lage, das Glutamatsystem zu beeinflussen. In Experimenten bei Tieren konnte ein deutlicher Anstieg von Glutamatkonzentrationen nach Ketamingabe aufgezeigt werden. Somit hat Ketamin das Potenzial, das gestörte Gleichgewicht der Glutamat-Homöostase bei einer Kokaingebrauchsstörung wieder zu normalisieren.
Ketamin, das ursprünglich als Anästhetikum entwickelt wurde, ist seit einigen Jahren als Antidepressivum bei therapieresistenter Depression zugelassen. Erste klinische Versuche beim Menschen zeigen, dass eine einmalige Ketamingabe auch bei Personen mit einer Kokaingebrauchsstörung eine therapeutische Wirkung haben könnte, was sich durch ein reduziertes Kokainverlangen und in der Folge verringerten Kokainkonsum äussert. Wie nachhaltig diese Effekte sind und welche neurobiologischen Mechanismen ihnen zugrunde liegen, ist bisher jedoch noch unklar. Aus diesem Grund wird in der Co-Boost-Studie geprüft, ob eine einmalige Infusion von Ketamin den veränderten Glutamathaushalt im Nucleus Accumbens bei Menschen mit einer Kokaingebrauchsstörung wieder normalisieren kann und ob die therapeutischen Effekte auf das Kokainverlangen und den Kokainkonsum längerfristig sind.
Anhedonie bei Kokainabhängigkeit
Bei Substanzgebrauchsstörungen ist nicht nur das Verlangen nach den entsprechenden Substanzen gesteigert, sondern zugleich auch das Interesse an anderen, nicht mit dem Substanzkonsum assoziierten alltäglichen und üblicherweise mit Belohnungserleben verbundenen Aktivitäten - wie beispielsweise soziale Unternehmungen, Sport oder gestalterische Tätigkeiten - vermindert. Um die Sensitivität des Gehirns für solche nicht mit dem Kokain assoziierten Belohnungsreize wieder zu stärken, wurde kürzlich mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (MRT) ein Neurofeedback-Training entwickelt, bei dem Menschen mit einer Kokainabhängigkeit lernen können, ihr Belohnungssystem aufgrund individueller mentaler Vorstellungskraft gezielt selbst zu regulieren. In der kommenden Studie soll nun geprüft werden, ob dieses sehr spezifische Belohnungslernen während zwei Neurofeedback-Trainings im MRT einen (längerfristigen) Einfluss auf das Konsumverhalten und Belohnungserleben im Alltag hat.
Window of opportunity
Da Ketamin auch in der Lage ist, Neuroplastizität zu induzieren und somit Lernvorgänge zu erleichtern, wird durch Ketamin ein kritisches Zeitfenster für therapeutisches Lernen eröffnet. Somit bietet eine durch Ketamin induzierte Plastizität des Gehirns ein sogenanntes «window of opportunity» für das erleichterte Erlernen von neuen psychotherapeutischen Inhalten, wie sie beispielsweise mit einem Neurofeedback-Training sehr spezifisch vermittelt werden können. Deshalb soll festgestellt werden, ob Ketamin eine verstärkende Wirkung auf das Belohnungslernen im Neurofeedback-Training hat.
Studiendesign
Wir führen eine randomisierte, doppel-blinde, placebo-kontrollierte klinische Studie mit insgesamt 120 Teilnehmenden durch. Neben der Gabe von Ketamin und Neurofeedback-Training kommt auch eine digitale App zur Anwendung, um die Teilnehmenden bei einer Änderung ihres Konsumverhaltens zu unterstützen. Die gerade gestartete Studie prüft bei Menschen mit einer Kokainabhängigkeit das Potenzial von Ketamin, den Glutamathaushalt im Nucleus Accumbens zu normalisieren und das Kokainverlangen zu reduzieren, und testet dabei, ob die glutamaterge Signalübertragung im Nucleus Accumbens als Biomarker für personalisierte Pharmakotherapien etabliert werden kann. Die Kombination von Ketamin mit Neurofeedback-Training soll ausserdem die pharmakologisch induzierte Neuroplastizität nutzen, um gezielt den pathologischen Veränderungen der Belohnungsverarbeitung (und somit auch der anhedonen Symptomatik, also der Unfähigkeit, Freude zu empfinden) entgegenzuwirken. Wir erwarten, dass sowohl eine einmalige Verabreichung von Ketamin als auch das zweimalige Neurofeedback-Training zu einer Verbesserung der Symptome der Kokaingebrauchsstörung führen. Zudem besteht die Hypothese, dass insbesondere die Kombination dieser beiden Ansätze zusätzlich einen synergistischen Effekt auf die Wirksamkeit haben wird.
Die Ergebnisse des Projekts könnten einen wichtigen Schritt in Richtung der Entwicklung dringend benötigter neuer Behandlungsformen für Kokainabhängigkeit bedeuten. Darüber hinaus könnten die Erkenntnisse auch die Entwicklung von Behandlungsansätzen für andere neuropsychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörung oder Angststörungen fördern, die von synergistischen Effekten des sehr spezifischen Neurofeedback-gesteuerten Lernens und pharmakologisch verstärkter Neuroplastizität durch Ketamin oder andere Substanzen profitieren könnten.